Leserbrief "Doppelstandarts" von Klaus-Peter Lehmann, taz v. 17.7.2019. Eingereicht 17.7.2019, gekürzt und entschärft veröffentlicht am 20.7.2019
Im Beitrag von K-P. Lehmann ist ein Argument zentral, das man immer häufiger von BDS-Kritikern und Israelfreunden hört, das ich aber für infam halte: BDS sei antisemitisch, weil es allein Israel kritisiere, obwohl es viel Schlimmeres gibt. Für Lehmann z. B. die Ausrottung der Indianer in den USA, der Krieg im Jemen und die Abholzung des Regenwaldes in Brasilien. So kann man natürlich jede Kritik delegitimieren und von ihrem Gegenstand und von der Debatte in der Sache trefflich ablenken.
Es gibt immer Schlimmeres: Wie kann man sich gegen die Rechtschreibreform engagieren, solange Küken geschreddert werden? Wie kann man sich dem Tierschutz verschreiben, solange Menschen malträtiert werden? Und man kann je nach Bedarf den Kontrahenten beliebig denunzieren: Wer sich dennoch für diese nachrangige Sache engagiert, mit dem kann etwas nicht stimmen. Vorliegend: Es müssen Antisemiten sein.
Diese Argumentation ist infam. Sie fragt nicht danach, aus welchen biographischen oder sonstigen Gründen sich Menschen für eine bestimmte Sache engagieren. Dass es andere Dinge gibt, die ein Engagement auch lohnen, kann nie ein Argument in der Bewertung des konkreten Engagements sein. Sie fragt auch nicht danach, ob das Engagement in dieser Sache gerechtfertigt ist. Wird ihr gefolgt, ist jedes Engagement denunzierbar, das sich nicht gegen das Schlimmste aller Übel richtet. Wobei erstmal herauszufinden wäre, worum es sich dabei handelt. In der Konsequenz dürften nur die ernst genommen werden, die sich gegen alle Übel der Welt richten (Der Papst? Der Dalai Lama?) oder jedenfalls gegen "die Mutter aller Übel". Herrliche Zeiten für alle kleineren Despoten und Warlords!
Nur am Rande: Sind die BDS-Aktivisten jemals gefragt worden, was sie von der Ausrottung der Indianer (die kein Boykott rückgängig machen kann), dem Jemen-Krieg und der Abholzung des Regenwaldes eigentlich halten? Natürlich nicht.
Fazit: Es gibt keinen moralischen "Doppelstandart" bei BDS, der den Vorwurf des Antisemitismus tragen könnte. BDS hat ein Thema gewählt. Andere wählen andere Themen. That`s all. Kritik hat in der Sache zu erfolgen. Die Denunzierung politischer Israel-Kritik als antisemitsch ist im übrigen geeignet, den tatsächlichen Antisemitismus zu banalisieren. Die Opfer des Holocaust sollten nicht für politisch-taktische Spielchen missbraucht werden. Auch nicht zugunsten Israels.
Ein ähnliches Argumentationsmuster findet sich übrigens auch bei manchen FFF-Kritikern: Greta und friends seien unglaubwürdig, weil sie Handies benutzen und Flugreisen machen. So what? Selbst wenn das stimmt: Was ändert das an der Richtigkeit ihrer Forderungen?
Adolf Clausen