Redebeitrag unsere #aufstehen Bremen Mitstreiters Wolfgang Vormann am 06.06.2020 auf dem Bremer Marktplatz (Zusammenfassung in Stichpunkten). Das Video dieser Rede findet sich am Ende dieses Beitrages.
Das Credo meines beruflichen Handelns: ‚Es ist nur die Bildung, die Gesellschaften langfristig nach vorne bringen kann‘ (Zitat frei nach Frederic Vester, einem prominenten Systemforscher der 80er und 90er Jahre.) Nicht Kredite, nicht Subventionierung der Arbeit, nicht ein umfassendes Wohlfahrtssystem hilft den Menschen, ihre Gesellschaft weiter zu entwickeln, sondern nur Bildung – für jeden so viel wie er aufnehmen kann und so viel wie er haben möchte und das kostenfrei – sorgt für hinterfragende und reflexionsfähige Bürger, die eine Gemeinschaft durch unbekannte, zukünftige Herausforderungen führen können.
Warum betone ich das jetzt gerade in der Corona-Krise? In der Schließung von Kindergärten, Schulen, Berufsakademien und Hochschulen hat es sich gerade noch einmal ganz deutlich gezeigt: LERNEN FUNKTIONIERT NICHT DIGITAL!
Im Shutdown war es eine Notwendigkeit, den Lehr- und Lernbetrieb nicht völlig zum Erliegen zu bringen; sowohl komfortable als auch provisorische Lernprogramme und Onlineplattformen versorgten Schüler*innen und Studenten*innen mit mehr oder weniger standardisiertem Stoff.
Zwei Beispiele dazu aus meinem unmittelbaren Erfahrungsumfeld:
- Ein junger Mann aus Afghanistan, den ich bei der Bewältigung seines Schulstoffes zum Erwerb des mittleren Bildungsabschlusses in Deutschland begleite, erhielt über eine recht brauchbare Onlineplattform von seinem Physiklehrer eine Link-Liste zu YouTube-Filmchen zum Thema „Parallel- und Serienschaltungen“. Die Filmchen waren überwiegend von Laien, also von motivierten Schülern, selbst gedreht und hatten entsprechende technische und pädagogische Mängel. Dann sendete der Lehrer noch eine Fotokopie aus einem Physikbuch mit einigen Fragen zum selben Thema. Diese sollten auf Termin von den Lernenden beantwortet und an den Pädagogen zurückgeschickt werden. In den Fragen tauchten Formelzeichen auf, die in den Filmen nie erwähnt worden sind. Die Fragen hatten den Charakter von ‚Schlüsselfragen‘ die eine Reflexion des Gesamtthemas erzeugen sollten. Dieser Überblick wurde aber allein durch die Filmchen nicht gegeben. Der Physiklehrer war entweder mit der Didaktik des Online-Lehrens überfordert oder er wollte sich das Leben so einfach wie möglich machen.
- Ein befreundeter Hochschullehrer war gezwungen, seine Vorlesungen über die Videokonferenzen-Software ZOOM abzuhalten. Er hatte dabei das Gefühl „mit einem toten Bildschirm“ zu reden. Die Studenten haben fast keine Zwischenfragen gestellt, obwohl sie dazu mehrfach aufgefordert worden sind. Sie konnten (oder wollten) die Inhalte nicht gemeinsam mit ihrem Professor dialogisch erarbeiten, sondern haben nur „konsumiert“. (Vielleicht haben sogar einige nur so getan, als ob sie konsumiert hätten.) Wie viel von dem Stoff tatsächlich bei den Zuhörern angekommen ist, blieb dem Professor ein Rätsel. Weiterhin wurde mehrfach der Wunsch geäußert, ob man die Vorlesungen nicht einfach aufzeichnen und in die Cloud stellen könnte. Dann könne man sie sich ja zu passenden Zeiten selber downloaden. Auch wenn selbstverständlich die Verantwortung zur Mitarbeit am Lernprozess im Hochschulbereich allein bei den Studenten liegt, würde so die Verführung drastisch erhöht, sich kurz vor den Klausuren „alles reinzuziehen“ und dann so zu tun, als ob man sich den Stoff erarbeitet hätte.
Die NOTLÖSUNG im Shutdown darf nicht zum PÄDAGOGISCHEN ALLTAG werden!
- Lernen hat etwas mit Kommunikation und Auseinandersetzung in Gruppe zu tun.
Auch wenn Softwareprodukte damit werben, dass eine individuelle Steuerung des Lerntempos an die Fähigkeiten des jeweiligen Schülers erfolgt, fehlt doch der Effekt, von seiner Lerngruppe (Klasse, Seminar, Kurs) „mitgerissen“ zu werden. Es fehlt das sich gegenseitige Befruchten mit Ideen zum Verständnis. Es fehlt das Korrektiv durch die Peergroup, es fehlt schlicht der gemeinsame Spaß an der Sache.
- In der Grundschule hat Lernen noch sehr viel mit BEGREIFEN zu tun.
Die Aufnahme des Lernstoffes über möglichst viele Sinneskanäle trägt sehr zum Erfolg bei. Kleinere Kinder sind noch mehr als ältere auf die haptische Erfahrung in Verbindung mit hören, sehen und sprechen angewiesen. Wenn sie einen Messbecher mit einem Liter Wasser durch die Klasse getragen haben, haben sie ein viel tieferes Verständnis von dem Verhältnis von Volumen zu Gewicht als wenn sie dies durch (lustige) Zeichentrick-Sequenzen erlenen müssen.
Die Neurobiologin und Professorin Dr. Gertraud Teuchert-Noodt nennt es: „Erziehung zu DIGITROTTELN“
Lernsoftware funktioniert in der Regel so:
1. Ein kurzes, buntes Intro zum Thema mit den wichtigsten Aussagen zum Stoff.
2. Eine Reihe von Fragen an den Lernenden. Entweder mit „Multiple-Choise-Antworten“ oder es wird eine Antwort in einer Weise erwartet, die von der Software leicht zu interpretieren ist (indem etwa der Antworttext nach bestimmten Schlüsselbegriffen abgesucht wird)
3a. Der Lernende hat die Antwort richtig gesetzt und wird mit einem Smiley oder dergleichen „belohnt“; dann kommt die nächste Frage.
3b. Der Lernende hat die Antwort nicht richtig gesetzt. Er bekommt erneut eine kurze Sequenz, die von Runde zu Runde leichter wird, bis er irgendwann richtig getippt hat oder das Prinzip durchschaut hat und einfach wartet, bis die Frage für ihn so leicht aufbereitet worden ist, dass er auf jeden Fall seine „Belohnung“ bekommt.
Im ungünstigen Fall lernt man dabei, dass man ja nicht wirklich etwas im Kopf haben muss, wenn man es doch früher oder später leicht genug serviert bekommt – oder sich einfach die Lösung bei Google oder Wikipedia holt.
Um es klar zu sagen: Ich bin kein Computer-Gegner! – auch nicht im Unterricht! Selbstverständlich ist es sinnvoll und hilfreich, Vokabeltrainer oder Trainingssoftware für das kleine 1x1 ergänzend im Unterricht einzusetzen. Und in der beruflichen Bildung sind manche Innovationsschübe ohne moderne Plattformen für „blended learning“ (Kombination aus Lernsoftware mit menschlicher, tutorieller Begleitung) gar nicht in der geforderten Kürze an die Belegschaften heranzubringen. Und es ist auch leicht einzusehen, dass das Erlernen eines „gesunden“ Verhältnisses zu moderner IT-gestützter Massenkommunikation ohne Digital-Gadgets im Unterricht nur schwer möglich ist.
ABER:
2016 wurde mit großem Getöse von der Bundesregierung der „Digitalpakt“ eingeführt. Er erhielt vor allem dadurch mediale Aufmerksamkeit, weil er eine bis dahin noch nie dagewesene Einmischung des Bundes in die Kultushoheit der Länder darstellte. Tatsächlich haben aber wirtschaftsnahe Forschungseinrichtungen – allen voran die Bertelsmann Stiftung – die Regierung mit Recherchen versorgt, die den „Kundenkreis“ Schule/Kultusbehörde/öffentliches Bildungswesen zur Abnahme von Software, Support, Beratung und Wartung von Softwareprodukten bewegten. Ein Riesengeschäft auf Kosten des Steuerzahlers! Und das vor dem Hintergrund, dass schon viele Schulleiter froh wären, wenn sie endlich einmal das nötige Kleingeld zum Renovieren der Turnhallen und Sanitäreinrichtungen hätten. Mit so berühmten Zitaten wie „Digital first, Bedenken second!“ (FDP-Lindner) wurde die Kritik an der pädagogischen Sinnhaftigkeit im Keim erstickt.
Verlockung zur Kosteneinsparung zu Ungunsten von Pädagogen und Lernenden
Eine Weiterverfolgung des eingeschlagenen Weges der Digitalisierung des Lernens birgt noch ganz andere Gefahren. Selbst wenn man vom möglichen Datenmissbrauch durch Konzerne und beinahe unmöglicher Kontrolle des Datenschutzes durch Aufsichtsbehörden absieht, stecken noch etliche Fallen in dieser Digitalzukunft.
a) Standardisierte Lernsoftware kann in viel größeren Klassenfrequenzen als beim Frontalunterricht eingesetzt werden. Klassen werden größer; eine Lehrkraft ist für die „Begleitung“ von wesentlich mehr Schülern verantwortlich.
b) Die Kompetenz des Personals erfordert nicht unbedingt eine pädagogische Ausbildung von der Breite wie im konventionellen Unterricht. Sehr leicht könnten sich Gedanken ausbreiten, dass es „völlig ausreichend ist“, IT-erfahrene Lernbegleiter einzusetzen, da man ja einen Teil der pädagogischen Verantwortung dem System übertragen kann.
c) Für Schulen und Bildungseinrichtungen entstehen neue, bisher nicht ausreichend bedachte Abhängigkeiten zu Wirtschaftsunternehmen (zum Beispiel in Form von Hard- und Software-Support, im Sponsoring von in der Anschaffung recht teurer Lernsoftware, in der Vernetzung von Daten aller Art usw.). Wo bleibt da die Freiheit der Lehre? Wird die Abhängigkeit des Schulwesens Formen annehmen wie in den USA (billige Massenwaren für allgemeine Schulen, wirklich gute Pädagogik gibt es nur an teuren Privatschulen)?
d) Das Abstimmen des lernenden Individuums auf die Software bleibt für die Pädagogen mehr oder weniger intransparent. Der Computer kann den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben und damit die Lerntiefe des Stoffs nach seinem – von der Wirtschaft entwickelten – Algorithmus selbst festlegen. „Fördern und Fordern“ erfolgt über die oben erwähnten Smileys. Wenn man diese Gedanken weiterverfolgt, gibt es Gefahren für die mühsam erkämpften Durchstiegsmöglichkeiten in unserem Bildungssystem. „Das System Computer“ bestimmt, welche Kompetenzen in welcher Ausprägung zu welchem Zeitpunkt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. – Auch das ist eine Gefahr für die Freiheit!
Digitales Lernen heißt BEHAVIORISMUS fördern!
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam der Behaviorismus (auch) in der pädagogischen Forschung zu Bedeutung. Kurz umschrieben geht es um ein Lernverhalten (definiert über „Reiz“ und „Reaktion“), das vergleichbar mit den Forschungen an dem berühmten „pawlowschen Hund“ ist. „Multiple-Choise-Aufgaben“ und „Lückentexte“ (beides wird gerne in Lernsoftware eingesetzt) fordern den Lernenden zu einem reflexartigen Verhalten auf. Er wird „trainiert“; im äußersten ungünstigen Fall könnte man es auch schon „dressiert“ nennen. Das Verständnis für den Lernstoff wird nicht über In-Frage-Stellen oder gar mit Betrachtungen über das „Warum?“ und „Wozu brauche ich das?“ erarbeitet. Lernende werden „erfolgreich“, wenn sie in möglichst kurzer Zeit große Stoffmengen durch „Reiz- und Reaktions-Spiele“ bewältigen. Erinnert einen das nicht an Jump-and-Run-Spiele wie „Donkey Kong“ oder „Super Mario“? Bekommen wir auf dem Wege die selbst reflektierenden, mündigen Bürger für zukünftige Gesellschaften?
Ergänzung am Rande: Ich bin nicht grundsätzlich gegen jede Form von behavioristischem Ansatz in der Pädagogik. Für manche Bereiche – zum Beispiel beim Trainieren von richtigem Verhalten in Notfallsituationen – ist ein solches Lernen durchaus zu befürworten.
- Sowohl allgemeines wie auch berufsbezogenes Lernen sollten heutzutage weitestgehend als ganzheitliches Lernen mit allen Sinnen verstanden werden. Dazu gehört eben auch immer (und in jedem Unterrichtsfach!) Kommunikation, soziales Miteinander, Gruppenlernen. Durch den Einfluss der IT in Social Medias haben wir heute unter jungen Menschen schon genug Probleme,
- sich klar und verständlich ausdrücken zu können,
- über einen angemessenen Wortschatz zu verfügen,
- Argumente sprachlich und inhaltlich/logisch vertreten zu können,
- Verhandlungsgeschick und Kompromissfähigkeit zu erlernen.
Die zuvor erwähnten Multiple-Choise-Aufgaben und Lückentexte sind hier kontraproduktiv. In einem IT-gestützten Bildungswesen müssen diese fachübergreifenden Lerninhalte einen genügend großen Raum im Präsenzlernen und von fachlich qualifiziertem Personal angeleitet bekommen!
Jura-Professoren beklagen schon heute, dass die Studenten oftmals einen viel zu eingeschränkten Wortschatz mitbringen, um künftig in einem Berufsfeld zu arbeiten, in dem es auf nuancenreiche Ausdrucksweise ankommt.
Deutschland ist eine führende Industrienation! Aber für Bildung wird im Verhältnis zu vergleichbaren Nationen viel zu wenig Geld ausgegeben. Zu den großen Herausforderungen unserer Zeit gehören im Bildungswesen INKLUSION und multikulturelle INTEGRATION. In beiden Bereichen leistet die Digitalisierung schier gar nichts!
Liebe Eltern, Pädagogen, Erzieher*innen, Professor*innen, Berufsschullehrer, Weiterbildner: Lasst die NOTLÖSUNG des ONLINE-Unterrichts im Shutdown nicht zur Standard-Lösung von Bildungsfragen werden! Computer müssen eine ERGÄNZUNG aber kein ERSATZ für den UNTERRICHT sein!
Vielen Dank!
(Wolfgang Vormann, seit kurzem Rentner, zuvor den größten Teil seines Berufslebens mit der Organisation von beruflicher Aus- und Weiterbildung beschäftigt.)
Rede von Wolfgang Vormann am 06.06.2020 auf dem Bremer Marktplatz