Rede unseres Mitstreiters Rodolfo Bohnenberger am 27.06.2020 auf der "Mensch Bremen ..." Kundgebung auf dem Bremer Marktplatz
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Als Sozialpädagoge und Familientherapeut in aufsuchenden Familienhilfen begegnete ich über 15 Jahre vielen Bremer Familien in ihren meist prekären Wohn- und Lebensverhältnissen, darin besonders den Kindern, um deren Interessen es hier gleich gehen wird. Zudem bin ich in der Gewerkschaft ver.di und im Bremer Bündnis Soziale Arbeit engagiert und mache nebenbei einen kleinen Lehrauftrag im Studiengang Soziale Arbeit an der Hochschule Bremen.
Das Mindeste, was wir Bürger*innen nach all den verordneten oder versuchten Einschränkungen unserer demokratischen Grundrechte, und nach all den massiven sozialen Belastungen von den Regierungen, von den Bundestags- und Bürgerschaftsabgeordneten erwarten können, wäre: Dass sie einen Untersuchungsausschuss, oder vielleicht besser noch eine Enquetekommission für eine unabhängige Klärung einrichten. In einer Enquetekommission können WissenschaftlerInnen und politische Strömungen, auch mit bewusst konträren Sichtweisen, eingeladen werden, um in einem längeren, transparenten und geordneten Diskurs eine seriöse Aufarbeitung machen. Gerade ist z.B. in Bremen eine Enquetekommission zum Klimaschutz gestartet worden. Geht doch ! Einsicht in die Dringlichkeit vorausgesetzt. [Die Hamburger Bürgerschaft hatte vor zwei Jahren eine Enquetekommission zum Kindeswohl eingesetzt.]
Die umstrittenen Maßnahmen trafen und treffen – wie so oft - die Ärmsten am Stärksten. Die mit den niedrigsten Löhnen, die mit den schlechtesten Wohnungen, die in Massenunterkünften erst recht, und: besonders die Kinder, die Einelternhaushalte, meist Mütter. [In Bremen haben wir ca. 23.000 Kinder in Einelternhaushalten, fast ein Viertel aller Kinder in Bremen wachsen so auf.[Siehe diese Studie der Abeitnehmerkammer]
Die meisten Mütter in Einelternhaushalten waren schon vorher, und sind erst recht jetzt, zeitlich, finanziell und kräftemäßig am absoluten Limit. Aber ohne ihre weitgehend unentgeltliche Sorge-Arbeit zuhause, ohne Erholen, Wohnen, Einkaufen, Essen, Schlafen, Wiedergenesen, Kinder versorgen und erziehen und Angehörige pflegen würde unser Gemeinwesen sofort zusammenbrechen.
Die meisten Eltern können zudem nur erwerbstätig sein [und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung wird immer größer], wenn es daneben eine öffentlich vorgehaltene, entlohnte, bezahlte Sorge- und Bildungsarbeit gibt: in Kitas, Schulen, Krankenhäusern, in der Kranken- und Altenpflege und in der Sozialen Arbeit. Dort werden aber weiterhin skandalös niedrige Frauenlöhne gezahlt, oftmals ohne Tarifbindung.
Im Lockdown wurde nun - wie selbstverständlich - davon ausgegangen, das die gesamte Daseinsfürsorge, bei kompletter Schließung all dieser öffentlichen Einrichtungen wie Kitas und Schulen, wie schon seit Jahrhunderten, auf die Schultern der Frauen komplett abladen werden kann – ungefragt und ohne jeden Ausgleich.
Ganz unerträglich – und meist ignoriert - ist dabei die entrechtete Lage hunderttausender osteuropäischer Frauen, die in deutschen Privathaushalten pflegen und schuften, und – als Folge fehlender politischer Regelungen – oftmals noch von konzernartigen Anwerbe-Agenturen zusätzlich ausgebeutet werden. Diese privaten Pflegehilfen waren auch im Lockdown und konnten oftmals nicht in ihre Heimatländer zu ihren Familien. Hat irgendeine Zeitung darüber berichtet? Mir nicht bekannt. Diese Frauen bleiben „unsichtbar“.
Weshalb betone ich das hier so ?
Weil der Lockdown ab März - unmittelbar und als Erstes immer die Kinder, die Jugendlichen und ihre Eltern, meist die Frauen, traf. Und gerade wiederholt sich das - nach einigen Lockerungen - wieder in solchen Hotspots wie der „Tönnies Region“ im Kreis Gütersloh oder in den gelockdownten Göttinger Wohnkomplexen, wo dann - angeblich alternativlos - gesundheitspolizeilich aufmarschiert und abgesperrt wird.
Kinder wurden und werden von heute auf morgen per Verordnung von ihren Freundschaften, ihre Verwandten, ihren Netzwerken, ihren Bildungsmöglichkeiten und ihren Freizeiteinrichtungen abgeschnitten - von für ihre Entwicklung und Förderung elementaren Bindungs- und Bezugspersonen getrennt. - Für viele auch von gesunder Ernährung, die in den Kitas und Schulen vorgehalten wird. Ihre Rechte werden mit Füßen getreten.
Auf der „Mensch Bremen... Demo“ auf der Bürgerweide am 16. Mai haben die Heilpraktikerin Katja Dikuschina, wie auch Gaby die Folgen eindringlich geschildert. Ein Junge hielt bei ihrer Rede ein Schild mit der Aufschrift hoch: „Ich will meine Kindheit zurück.“ Das war eindringlich und berührend, endlich konnten die wochenlang Unsichtbaren ihre Stimme erheben – dafür noch mal Dank an die OrganisatorInnen von „Mensch Bremen..“.
Aber – nun wird‘s richtig perfide – die meisten dieser Politiker*innen, die die Lockdown Maßnahmen verordneten, verkündeten in den letzten Jahren in Presseerklärungen, Tagungen, Sonntagsreden, Parteiprogrammen und Hochglanzbroschüren die große Bedeutung der Kinderrechte und die deshalb dringende Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz. - Aber jetzt, wo die gleichen PolitikerInnen hätten beweisen können, dass es ihnen ernst ist mit den Kinderrechten, haben sie komplett versagt.
• Denn „Kinderrechte achten“ hätte mindestens bedeutet, die Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern VOR in Kraftsetzung solcher Verordnungen (Kita-Schließung, Schul-Schließung, Freizeitheim-Schließung, Kontaktverbote usw.) intensiv in einen Klärungsprozess einzubeziehen.
• „Kinderrechte achten“ hätte mindestens bedeutet, die Kinder und Jugendlichen zu beteiligen an flexiblen und kreativen Lösungen, schließlich ging es um lebenswichtige Bedürfnisse der Kinder, um elementare Interessen der Jugendlichen und ihrer Eltern.
Die Kinderinteressen und -bedürfnisse wurden sträflich übergangen, wir haben es hier zu tun mit einem krassen Rückfall in obrigkeitsstaatlich-paternalistische Regierungsweisen, die wir eigentlich dachten im 19. Jahrhundert, spätestens mit der Abdankung von Kaiser Wilhelm II im November 1918, hinter uns gelassen zu haben.
Kürzlich erschien eine Studie mit dem Titel: „Krisengerechte Kinder - statt kindergerechtem Krisenmanagement?“ Der Verfasser Michael Klundt ist Professor für Kinderpolitik und Koordinator des Master-Studienganges »Kinderwissenschaften und Kinderrechte« an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Sein Fazit in der Studie:
„Obgleich Bund, Länder und Kommunen auch in Zeiten der Corona-Pandemie zur vollumfänglichen Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention [1992 von Deutschland ratifiziert] verpflichtet waren, konnte mit dieser Untersuchung nachgewiesen werden, dass dies in der Praxis weitgehend versäumt wurde. Wie die Vize-Präsidentin des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Sigrid Peter es formuliert hat, wurden die »Kinder als Mittel zum Zweck gesehen«. So sind nachweislich elementare Schutz-, Fürsorge- und Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen verletzt worden. Praktisch alle Entscheidungen und Maßnahmen der Politik seit März/April 2020 wurden somit völkerrechtsverstoßend und bundesgesetzwidrig ohne vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls vorgenommen.“
Demütigend für Kinder waren übrigens schon vor 15 Jahren die verordneten Hartz IV Regelsätze und [die im Sozialgesetzbuch II vorgesehen] Sanktionen. In Bremen müssen heute 30% aller Kinder in diesem Hartz IV Armuts- und Bestrafungsregime leben. Das sind ca. 35.000 Kinder unter 18 Jahre. 35.000 Kinder in Armut in Bremen! Ein Skandal.
Die vorherrschende kapitalistische Produktionsweise und die damit einhergehende Politik entfernt sich immer weiter von dem im Grundgesetz ausformulierten SOZIALSTAATSGEBOT. Im Grundgesetzartikel 20, Absatz 1 heißt es: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Und im Grundgesetzartikel 28, Absatz 1 heißt es: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“ Unser Gemeinwesen wird durch dieses Sozialstaatsgebot zur Förderung sozialer Gerechtigkeit als verfassungsmäßige Leitlinie in der Erfüllung öffentlicher Aufgaben verpflichtet.
Wie verträgt sich das mit der von Kanzlerin Merkel ausgerufenen „marktgerechten Demokratie“ ?
Die soziale Spaltung in arme und reiche Ortsteile nimmt in Bremen drastisch zu:
• niedrige oder stagnierende Real-Löhne für einen immer größeren Teil der Lohnabhängigen,
• absinkende Renten und Sozialleistungen,
• explodierende Mieten und damit Verdrängung ärmer Menschen in trostlose Wohnkomplexe und -siedlungen, meist in den Randlagen der Stadt,
• schlechte und teure Verkehrsanbindungen in den Randlagen.
• Zu wenig KiTas, Schulen, Jugendhäuser, Häuser der Familie und das dafür notwendige qualifizierte Personal
Statt gegenzulenken, erleben wir z.B. gerade im „Hulsberg-Viertel“, auf dem St. Jürgen Krankenhausgelände, wie unsere kommunalen Grundstücke mit ausdrücklicher Billigung der Landesregierung zu horrenden Spekulationspreisen in private Investorenhände wandern, die auf dem privatisierten Boden dann in ihrem Renditestreben fast ausschließlich profitable Luxuswohnungen bauen und vermieten. Wie soll so eine gute soziale Durchmischung unserer Wohnviertel ermöglicht werden? Arme werden verdrängt, man nennt das Gentrifizierung. Sehenden Auges wird das schleichende Entstehen von Parallelwelten, von sog. „Brennpunkten“, billigend in Kauf genommen. Bis es „knallt“ - dann sind die Zeitungen meist voll von diskriminierenden Schlagzeilen über die dort lebenden Menschen. Die Verursacher, die dem Treiben mit gesetzlichen Regelungen hätten Einhalt gebieten können, sind fein raus. Über sie redet dann keiner mehr.
Was tun?
Ich meine, wir müssen uns trauen, gerade jetzt in der Krise, den Artikel 15 Grundgesetz aus seinem Dornröschenschlaf aufzuwecken. Darin heißt es:
„Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“
Danke für Ihre und Eure Aufmerksamkeit !
Anhang:
Prof. Klundt hatte die Gelegenheit, eine Stellungnahme vor der Kinderkommission des Bundestages vorzutragen