Nun dringt - viel zu spät - auch die Sichtweise der "lockgedownten" Eltern und Kinder ins Radar der öffentlichen Wahrnehmung. Als Ende April/Anfang Mai die Lockerungen begannen, ignorierten die Verordnungen der Bundesregierung, wie auch die der Bremer Landesregierung, incl. des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsressorts, die Interessen der Mehrheit der Kinder und Eltern. (von Rodolfo Bohnenberger, update 14.05.2020)
Eine Soziologin der Uni Bremen, Dr. Sonja Bastin kritisierte am 3. Mai im Weserkurier, dass weiterhin "nur ein Bruchteil der Kinder institutionell betreut werden" in der sog. erweiterten Notbetreuung. "Die Erwerbstätigkeit wird weiter erwartet, alles andere soll irgendwie nebenbei laufen. Das ist eine Verhöhnung dessen, was Eltern grundsätzlich und insbesondere jetzt leisten. Und es ist auch eine Verhöhnung der Leistung von Erzieherinnen und Erziehern." Zwar wird die am 12. Mai in Bremen verkündete "erweiterte Notbetreuung" mehr KiTa-Kinder erfassen als bisher, aber so zögerlich, dass auch nach dem 15. Juni nur ca. 50% der KiTa-Kinder wieder in die KiTa werden gehen können. Viele Kinder und Eltern bleiben unversorgt. Die Forderung der Gewerkschaften ver.di und GEW nach ausreichend personellen und räumlichen Ressourcen, wie auch ausreichend Gesundheitsvorsorge für die Kollegen*innen in den KiTAs sind natürlich zu unterstützen und erfordern mindestens ebenso starke (auch finanzielle) Anstrengungen, wie sie aktuell den Fußballprofis der Bundesliga zugute kommen, die am WE wieder "durchstarten" sollen. Und kreative Ideen: Warum nicht Parkanlagen und Stadtwald bei gutem Wetter, und zur Zeit geschlossene Einrichtungen bei schlechtem Wetter stundenweise einbeziehen.
Nach Dr. Sonja Bastin, verschieben konservative Familien- und Wirtschaftsverständnisse in den Expertenrunden der Bundesregierung die "Leistungen, die sonst von Personal in Betreuungs- und Bildungseinrichtungen erbracht werden (betreuen, erziehen, bilden, putzen, kochen, einkaufen) kompensationslos ins Private". So könne es nicht weitergehen:
"... kurzfristige kreative Lösungen [sind] gefordert, wie bspw. Kitas in kleinen Gruppen und bedarfsabhängig schrittweise zu öffnen ...". - Es wäre durchaus möglich - ähnlich wie in einigen Klassen der Grundschulen - infektiologisch vertretbare Lösungen (tagewesie, Schichtbetrieb) für die Mehrheit der Kinder zu finden. - Die skandinavischen Länder machen es vor ! Dort wurden Kitas/Bildungseinichtungen für die Kleinsten frühzeitig (Dänemark ab Mitte April) wieder geöffnet, mit kreativen Ideen: so wurde der Zugang zu Zoos ermöglicht. Nach ersten Erkenntnissen gab es dort keine signifikante Häufung von Infizierungen, auch die befürchtete Ausbreitung gefährlicher Ansteckungs-Hotspots ist dort nicht zu beobachten. Von CoViD-19 Erkrankung sind Kinder ohnehin kaum betroffen; das liegt ganz auf der Linie der meisten wissenschaftlichen Studien zu diesen Altersgruppen.
In einem Filmbeitrag des MDR Ende April äußern betroffene Mütter und Wissenschaftlerinnen, wie Jutta Allmendiger (Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung) Kritik an den Maßnahmen von Jens Spahn und des Robert Koch instituts, weil die Interessen von Kindern ignoriert würden und Frauen in altbekannte Rollenmuster gezwängt würden. Unter diesem LINK (https://www.mdr.de/video/mdr-videos/c/video-405102.html) ist das Video abrufbar. Am 3. Mai konnte sich Jutta Allmendiger bei Anne Will äußern.
Wolfgang Hammer, Soziologe, Dr.phil., Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Kinderhilfswerks und ehem. langjähriger Leiter des Hamburger Jugendamtes hat vom 16. April bis 9. Mai vier offene Briefe (hier zum Download) mit deutlicher Kritik an die Mitglieder des Familienauschusses im Bundestag und andere verantwortliche Bundes- und LandespolitikerInnen geschrieben. In seinem letzten Brief fordert er die sofortige Eingerufung eines "politischen Kindergipfels". Hammer kritisiert die Unzulänglichkeiten der Verordnungen der Bundesregierung und der Länder zur Exit - Strategie aus der Covid - 19 Pandemie. Entscheidende Rechte würden den Kinder schon wochenlang vorenthalten: Das Recht auf Gesundheit, Erholung , Sport und Spiel. Das Recht auf gesunde und abwechslungsreiche Ernährung. Das Recht auf Bildung. Das Recht von Eltern und Kindern auf den besonderen Schutz des Staates.
Mehrere Wissenschaftler und Fachleute haben nun bereits zum zweiten Mal in ausführlichen Thesen die Informationspolitik des Robert Koch Instituts, die Berichterstatung in den Medien und die unangemessen pauschalen Lock-Down-Maßnahmen kritisiert, darunter auch Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske, Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit. (Thesenpapier 2.0, hier zum Download die Version vom 3. Mai) In These 11 heißt es z.B.:
"Kinder scheinen in zweierlei Hinsicht eine besondere Rolle zu spielen, denn sie werden zum einen deutlich seltener infiziert, und zum anderen werden sie nicht schwer krank. Einer Öffnung der Betreuungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder steht aus wissenschaftlicher Sicht keine begründbare Erkenntnis entgegen. Sinnvoll wäre eine epidemiologische Betreuung der anstehenden Öffnung, die der Frage nachgeht, ob Infektionen bzw. Erkrankungen auftreten (repräsentative Stichprobe)."
Es hat (zu) lange gedauert, bis diese Fachleute über unseren Öffentlichen Rechtlichen Rundfunk Eingang in den demokratischen Debattenraum fanden: Am 10. Mai (acht Wochen nach dem Lockdown!) in ZDF und ARD: https://www.zdf.de/politik/berlin-direkt/berlin-direkt-vom-10-mai-2020-100.html (von Minute 0:30 bis 5:48 ), sowie https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-7507.html (Ab Minute 3:45 : Überwiegend Frauen sind von Corona-Beschränkungen betroffen.) Und hier im Bremer Regionalfernsehen: buten und binnen vom 10. Mai.
In der Bremer TAZ (Eiken Bruhn) hatte sich bereits am 27. 04. der Bremer KInderarzt Torsten Spranger geäußert. Er ist seit 2008 in eigener Praxis in Bremen tätig und Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte im Land Bremen. Er beklagt, dass die Kinderinteressen in den Expertenrunden der Bundesregierung zu wenig Berücksichtigung fänden, dagegen mächtigere Lobbygruppen erstaunliche Ausnahmeregelungen durchsetzten. Bisherige Daten legen nahe, dass Kinder für das Voranschreiten der Pandemie eine untergeordnete Rolle spielen. "Gleichzeitig lässt man aber zu, dass Erwachsene – die gefährdeter sind – gemeinsam in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Das ist ein größeres Ansteckungspotenzial. Und man will Fußballspieler wieder aufs Feld lassen, erlaubt Tennis und Golf, aber Kinder dürfen nicht auf den Bolzplatz. Was ist denn das für ein Signal?"
Die Corona-Pandemie könnte ein Weckruf sein, erhofft sich in diesem Interview Prof. Gabriele Winker von der TU Hamburg (Autorin des Buches "Care-Revolution"), Auszug:
"Der Zweck einer kapitalistischen Ökonomie ist die Verwertung des eingesetzten Kapitals. Dafür muss Arbeitskraft in hinreichender Quantität und Qualität zur Verfügung stehen. Dies wird in einer kapitalistischen Gesellschaft primär unentlohnt durch die Sorgearbeit in Familien gewährleistet. Hier wird die zukünftige Generation der Erwerbstätigen geboren, erzogen und betreut, und hier wird auch die Arbeitskraft der derzeitigen Erwerbstätigen wiederhergestellt. Seit im neoliberalen Kapitalismus alle erwerbsfähigen Personen durch Erwerbsarbeit eigenständig für ihren Lebensunterhalt aufkommen müssen, fehlt jedoch für diese familiäre Sorgearbeit die Zeit. Dieses Problem wird noch verstärkt durch eine staatliche Austeritätspolitik, die an der sozialen Infrastruktur spart, mit der Konsequenz, dass es in der öffentlichen Daseinsvorsorge fast überall an Personal und Ressourcen fehlt. Besonders sichtbar wird dies in Zeiten von Corona in den Krankenhäusern und Pflegeheimen am Mangel an Pflegekräften oder Schutzausrüstung."
Anhang:
VAMV (Verband alleinerziehender Mütter und Väter)
Erfolgreiche Petition (42.000 Unterschriften) des Verbandes der Alleinerziehenden: Corona-Notbetreuung für Alleinerziehende (https://www.vamv.de/politische-aktionen/petition-corona-notfallbetreuung-fuer-alleinerziehende)
20 Frauenverbände und Gewerkschaften [ 29. April 2020. ] wenden sich mit gleichstellungspolitischen Forderungen in einem gemeinsamen Aufruf an Politik und Arbeitgeber. (https://www.vamv.de/politische-aktionen/wann-wenn-nicht-jetzt) Gefordert wird: Zentrale Forderungen sind u.a.: Finanzielle Aufwertung und bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege, im Gesundheitswesen, der Erziehung und im Einzelhandel. Abschaffung der Sonderregelungen für Minijobs. Steuer-, Sozial- und Familienleistungen so aufeinander abzustimmen, dass sie zu einer tatsächlichen finanziellen Verbesserung für Frauen, insbesondere für Alleinerziehende führen. Rahmenbedingungen und Arbeitszeiten, die es Eltern ermöglichen, sich die Care-Arbeit gereicht zu teilen. Eine bedarfsgerechte und flächendeckende Versorgung mit Beratungsstellen und Gewaltschutzeinrichtungen.